Barry, der Tabaxi-Barbar: Ich setzte meine Fertigkeit Überzeugen ein, um die Wache abzulenken.
DM: … Und wie willst du das genau anstellen?
Barry: Äh … ich mache ihm ein Kompliment über sein sportliches Aussehen!
In meinem vorherigen Artikel habe ich erklärt, was ein Spielmodus ist und in welche Komponenten er sich unterteilen lässt: Wahrnehmung, Interaktion und Spielablauf.
Der alternative Spielmodus, den ich heute vorstellen möchte, bezieht sich auf die Wahrnehmung – und in diesem speziellen Fall auf die Wahrnehmung der Spieler von ihrer eigenen Spielfigur. Diese wollen wir heute verändern.
Die Macht der Wahrnehmung und Präsentation
Wie etwas präsentiert und wahrgenommen wird, hat einen großen Einfluss darauf, wie wir damit umgehen. Dazu möchte ich ein kleines Beispiel außerhalb der Tabletop-RPG-Welt geben (es ist ein bisschen lang, aber es ist relevant für den heutigen Spielmodus):
Ich gebe zu, dass ich ein kleines Social Media Problem hatte. Ich war einfach zu viel auf Facebook, Twitter, Instragram, Mastodon und Co. und habe dort hauptsächlich einfach nur passiv konsumiert und mich am Ende irgendwie schlecht gefühlt, weil ich Zeit in diesen Apps verbracht habe und nicht mit den Dingen, die ich eigentlich machen wollte, wie z.B. hier diese Blogartikel oder neue Abenteuer für die DM’s Guild zu schreiben.
Aber es ist einfach so… diese Apps sind verführerisch. Sie waren direkt auf dem Startbildschirm meines Handys, schön bunt, sofort sichtbar, nur einen Klick entfernt. Ich wusste also, dass ich etwas ändern musste – aber gleichzeitig konnte ich die Apps nicht einfach löschen. Ich musste mit ihnen arbeiten, dort für meinen Blog werben, mich mit anderen austauschen – aber ich musste es schaffen, ein gesundes Verhältnis dazu zu entwickeln.
Also habe ich mich des Konzepts des Nudgings bedient. Unter Nudging versteht man kleine Veränderungen, die dazu führen, dass Menschen ihr Verhalten und ihre Entscheidungen ändern.
Ein Beispiel für Nudging sind kleine Fliegenbilder in Urinalen. Weil Männer beim Urinieren auf die Fliege zielen, landet in öffentlichen Toiletten mit diesen Fliegenbildern rund 80 Prozent weniger Urin auf dem Boden als in Toiletten ohne Fliegenbilder.
Jetzt musste ich nur noch die richtige Fliege für mein Problem finden… und ich habe sie gefunden. Ich benutzte einen anderen Launcher für mein Android-Handy, der den Startbildschirm und die App-Galerie veränderte: Statt all der bunten Icons hatte ich nur noch eine Liste von Apps, die aus reinem Text bestand. Auf dem Homescreen konnte ich 8 Apps nur als Text anheften, der Rest war eine riesige Liste in der App-Galerie. Ich habe die wichtigsten Apps (also keine Social Media Apps) auf den Homescreen gepinnt und wenn ich den Rest öffnen wollte, musste ich in die App-Galerie und entweder manuell suchen oder die richtige App durch Texteingabe öffnen. Und bumm, weil ich plötzlich erst die App-Galerie öffnen musste und dann auch noch Facebook oder Instagram eintippen musste, habe ich diese Apps eigentlich nicht mehr geöffnet. Gleichzeitig habe ich gemerkt, welche Apps ich wirklich öffnen muss. Allein diese Umstellung hat meinen Umgang mit Social Media Apps sofort verändert. Weil der visuelle Anreiz, die bunte, hübsche Instragram-Kachel, weggefallen ist, habe ich gar nicht mehr daran gedacht, die App zu öffnen. Und dann in der App-Galerie danach zu suchen, das hat sich für mich irgendwie nicht gelohnt.
Nur war dieser Launcher etwas unpraktisch, ich hatte mehr als 8 Apps, die ich oft brauche. Von WhatsApp über Banking Apps, ToDo Listen und all meine D&D Apps war das wirklich zu unpraktisch. Also habe ich mich für einen Mittelweg entschieden. Zuerst bin ich zum alten Look zurückgekehrt und habe dann das Aussehen der App-Icons geändert – hin zu einfachen Schwarz-Weiß-Icons. Dann habe ich alle Social Media Apps auf Seite 3 meines Startbildschirms verbannt. Immer noch leicht zu erreichen, wenn ich sie wirklich brauche, aber weit genug entfernt, um micht nicht mehr zum Doom-Scrolling zu verleiten.
Wie man also sieht, können kleine Veränderungen in der Präsentation, kleine Einführungen von Erleichterungen oder Unbequemlichkeiten tatsächlich große Auswirkungen auf das Verhalten haben. Das Prinzip ist relativ einfach: Man verändert die Umgebung so, dass erwünschtes Verhalten leichter fällt als unerwünschtes. Man stellt das Obst griffbereit auf den Tisch, packt die Süßigkeiten aber so weit oben in den Schrank, dass man erst eine kleine Trittleiter holen muss, um sie zu erreichen, stellt den Müllsack abends schon an die Wohnungstür, damit man ihn morgens gleich mitnehmen kann oder kauft sich einfach eine neue Tastatur, auf der es sich angenehmer tippen lässt und die nicht so oft ausfällt, weil sie mit einem Kabel angeschlossen ist.
Aber was hat das alles mit Rollenspielen und speziell mit D&D zu tun?
Der Charakterbogen und die Verleitung zu Mechanic-First-Ansätzen
Eine ganze Menge. Die Art und Weise, wie ein Rollenspiel (oder Spiele im Allgemeinen) präsentiert wird, beeinflusst die Art und Weise, wie die Spieler damit interagieren. Die Wahrnehmung beeinflusst unser Verhalten, unsere Denkmuster. Bei Computerspielen ist das beispielsweise sofort ersichtlich: Bei einem Spiel aus der Egoperspektive handelt es sich wahrscheinlich um einen Ego-Shooter, bei einem Spiel aus der Third-Person-Perspektive eher um ein Rollenspiel, bei einem Spiel aus der Vogelperspektive eher um ein Strategiespiel. Allein die Art und Weise, wie ein Spiel präsentiert wird, sagt viel darüber aus, um was für ein Spiel es sich handelt und wie wir damit interagieren sollen.
Und das ist bei D&D nicht anders.
Was sieht ein D&D-Spieler im Grunde vor sich, wenn er D&D spielt? Was hat wahrscheinlich so ziemlich jeder D&D-Spieler vor sich, entweder auf dem Tisch oder auf dem Bildschirm?
Seinen Charakterbogen. Und zwar hauptsächlich Seite 1. Egal, was ein Spieler sonst noch so herumliegen hat, er wird in irgendeiner Form seinen Charakterbogen vor sich haben. Da sieht er seine Attribute, Fertigkeiten, Trefferpunkte, Rüstungsklasse, Klassenmerkmale, Name, Volk und so weiter. Und es macht auch irgendwie Sinn, das vor sich liegen zu haben. Weil man dann sehr schnell darauf zurückgreifen kann, sehr schnell alles Wichtige findet.
Aber es verlockt (nudged!) auch zu bestimmten Verhaltensweisen. Wie eine Fliege im Pissoir wird der Blick eines Spielers, der gerade überlegt, was er tun soll, auf die schöne Liste der Fertigkeiten gelenkt. Das verleitet dazu, die nächste Aktion in Form einer Fertigkeit zu denken. Man wählt seine Fertigkeit aus und überlegt erst dann, wie die Anwendung dieser Fertigkeit durch den Charakter in der Spielwelt aussehen könnte. Das ist keine bewusste Entscheidung, die man so trifft, sondern eine, die dadurch begünstigt wird, dass der Charakterbogen einfach so vor einem liegt. Die Gedankenwelt des Spielers, wie er mit dem Spiel interagieren soll, wird durch den Blick auf den Charakterbogen strukturiert. Dadurch denkt man automatisch in Spielmechaniken wie Fähigkeiten. Man denkt nicht „Mein Charakter würde jetzt versuchen, die Wache mit einem Kompliment abzulenken“, sondern man denkt als Spieler „Ich könnte meine Fertigkeit Überzeugungskraft auf die Wache anwenden, da habe ich einen +7 Bonus“. Man fühlt sich nicht mehr in den Charakter hinein und stellt sich vor, dass man dieser Charakter in der Welt ist, sondern man sieht ein Spiel vor sich, in dem es darum geht, den optimalen Schalter umzulegen.
Und das ist meiner Meinung nach nicht optimal. Denn es schränkt auch die Kreativität des Spielers ein, ohne dass er sich dessen bewusst ist. Handlungen, die nicht einfach einer der Fertigkeiten zugeordnet werden können, kommen einem gar nicht erst in den Sinn.
Dabei ist das Grundspielprinzip von D&D doch folgendes:
Der DM präsentiert den Spielern eine Situation, in die sich die Charaktere der Spieler befinden, die Spieler sagen oder stellen dar, wie ihre Charaktere auf die Situation reagieren und der DM entscheidet dann mithilfe des gesunden Menschenverstandes und den Regeln die Auswirkungen der Handlungen der Spielercharaktere und präsentiert den Spielern dann wieder die daraus neu entstandene Situation.
Die Spieler sagen, was ihre Charaktere tun, und erst dann entscheidet der Spielleiter, ob eine Spielmechanik wie die Anwendung einer Fertigkeit überhaupt zum Tragen kommt. Wir haben hier also einmal das Grundprinzip, dass die Erzählung, das Narrativ im Vordergrund steht, dass im Vordergrund steht, was die Charaktere machen und dass die Regeln nur dazu da sind, dieses Narrativ zu unterstützen, während die Struktur am Spieltisch aber einen Nudge dazu gibt, die Regeln erst einmal anzuwenden. Also das Narrativ wird hier benutzt, um die Regeln zu unterstützen.
Und dass so etwas passiert, kann man oft sehen, wenn Spieler Dinge sagen wie: „Ich möchte Motiv-Erkennen“, „Ich möchte einen Überzeugungswurf machen“ und so weiter. Sie sprechen in Spielmechaniken und nicht in Charakterhandlungen. Und das wollen wir jetzt ändern, indem wir einen Nudge in die andere Richtung geben:
Der Narrativ-Extrem-Modus
Problem: Der direkte Blick auf den Charakterbogen macht es den Spielern sehr leicht, in Spielmechaniken zu denken, anstatt sich in den Charakter hineinzuversetzen.
Lösung: Wir verändern die Wahrnehmung der Spieler auf das Spiel, indem wir den Charakterbogen „verstecken“.
Dies geschieht mit dem „Narrativ Extrem“-Modus (Arbeitstitel). Dieser Modus soll die Spieler dazu anregen, sich mehr mit der erzählerischen Seite ihrer Charaktere zu identifizieren. Er ist sehr einfach zu implementieren, erfordert nicht viel Arbeit und ich denke, er wird den meisten Spielern gefallen. Er funktioniert in zwei Schritten:
- 1. Die Essenz des Charakters festhalten: Jeder Spieler soll kurz in ein bis drei Sätzen die Essenz seines Charakters, seine grundlegenden Charakterzüge auf ein DIN A4 Blatt schreiben. Dabei könnte es sich z.B. um die Rolle und die Motivation handeln, es kann aber auch mehr sein. Die Form wäre also „Ich bin [Charaktername], ein/e [Schicksal][Klasse], die/der [Motivation]“ – das ist dein Charaktermotto.
Ich bin Barry, der trinkfreudige Barbar, der aus Abenteuerlust unterwegs ist.
- 2. den Charakterbogen abdecken: Das A4 Blatt wird oben auf den Charakterbogen gelegt, so dass dieser während des Spiels verdeckt ist. Die Spieler sollten den Charakterbogen nur dann ansehen, wenn der DM sie auffordert, einen Attributswurf (Fertigkeitswurf) zu machen oder wenn sie etwas auf dem Charakterbogen eintragen sollen – und natürlich im Kampf.
Analog würde man das natürlich auch bei einem virtuellen Spieltisch machen: Den Charakterbogen minimieren und dafür die Essenz des Charakters in einem Dokument geöffnet haben.
Wenn du als Spieler jetzt eine Entscheidung treffen willst, was deine nächste Aktion sein soll, dann schau dir deine Charakteressenz an, die du aufgeschrieben hast und lass dich davon inspirieren und leiten.
Indem du den Charakterbogen einfach verdeckst, verdeckst du die Verlockungen, in Regelmechaniken zu denken. Und dadurch kommt man mehr in einen narrativen Spielmodus und verlässt den mechanikorientierten Spielmodus.
Ich habe noch einen etwas ausführlicheren Charakteressenzbogen vorbereitet, den ihr auch verwenden könnt, aber zum Ausprobieren reicht ein A4-Bogen mit der Charakteressenz völlig aus.
Charakteressenzbogen
Und um das Bedürfnis, auf den Charakterbogen zu schauen, noch ein stückweit weiter abzuschwächen, habe ich auf den Charakteressenzbogen noch ein Inventar und die Zauberliste gepackt, damit man nicht anfängt, in seinem Charakterbogen danach zu blättern.
Der Charakteressenzbogen enthält also alles, so dass wir wirklich nur auf den normalen Charakterbogen schauen müssen, wenn der Spielleiter tatsächlich die Anwendung von Regeln verlangt und wir unsere Boni nachschauen müssen oder wie viele Trefferpunkte wir noch haben.
Es ist sozusagen der Charakterbogen, wenn man alle Hinweise auf die Spielmechaniken weglässt.
Man füllt ihn wie einen normalen Charakterbogen aus. Name, Klasse, Volk, Hintergrund, Gesinnung, Hintergrundgeschichte… und dann hat man noch viel Platz, um die Ausrüstung, die man mit sich herumträgt, und die Zauber, die man gelernt hat, einzutragen. Ausrüstung und Zauber sind Dinge, die es direkt in der Spielwelt gibt, sie helfen also auch, den Charakter lebendig werden zu lassen.
Unter Motto trägt man nun die Charakteressenz ein:
„Ich bin [Charaktername], ein/e [Bestimmung][Klasse], die/der [Motivation]“.
Der Charakter-Essenz-Bogen kann hier heruntergeladen werden (ich musste ihn auf die DM’s Guild stellen, weil ich den WotC-Charakter-Bogen als Vorlage genommen habe).
Vorteile des Narrativ-Extrem-Modus
Fassen wir nochmal die Vorteile des Narrativ-Extrem-Modus zusammen:
- Fokussierung auf den Charakter: Durch die Verwendung des Charakteressenz-Bogens konzentrieren sich Spieler stärker auf die Persönlichkeit und Motivationen ihrer Charaktere.
- Reduzierung der Spielmechanik-Bias: Indem der direkte Blick auf den Charakterbogen minimiert wird, werden Spieler weniger dazu verleitet, in Spielmechaniken zu denken und stattdessen in den Kopf ihrer Charaktere einzutauchen.
- Förderung der Kreativität: Spieler werden ermutigt, kreativere Lösungen für Probleme zu finden, die ihrer Charakteressenz entsprechen, anstatt sich ausschließlich auf vordefinierte Fertigkeiten zu verlassen.
Fazit
Der Narrative Extrem-Modus bietet eine einfache und effektive Möglichkeit, das Spielerlebnis in Dungeons & Dragons zu verbessern. Indem sich die Spieler stärker mit der Persönlichkeit und Motivation ihrer Charaktere identifizieren, wird das Rollenspiel authentischer und bereichernder. Die Implementierung des Charakter-Essenz-Bogens ermöglicht es Spielleitern und Spielern gleichermaßen, sich stärker auf die erzählerischen Aspekte des Spiels zu konzentrieren und so ein tieferes Eintauchen in die Spielwelt zu ermöglichen.
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Euer A.B. Funing