“Ich bin Marius Snu, Magier, Held, Drachentöter! Ich habe die Hexen von Südwick besiegt, die Oger von Ostwick gezähmt, die Dämonen von Nordwick niedergezwungen und die Drachen von Westwick unterworfen!”
“Fängst du nicht auch auf Stufe 1 an?”
In diesem Blogbeitrag wollen wir uns genauer anschauen, wie Spieler ihre Spielercharaktere vor dem Spiel erstellen sollten und welche Fallstricke man vermeiden sollte. Auf die Idee für diesen Artikel bin ich gekommen, als ich den Artikel vom Angry-GM zu seiner Simple Homebrew-Campaign und der Erstellung von Charakteren gelesen habe.
Zusammengefasst schreibt er da, dass ein Charakter aus einem Charakter-Bogen, einer Motivation und einer kurzen, physischen Beschreibung besteht und dass man alles tun sollte, damit die Spieler nicht mehr zu ihren Charakteren machen.
Am Anfang hat mich das etwas vor den Kopf gestoßen. Warum sollte man keine ausgefallene Backstory zu seinem Charakter machen? Hilft man nicht dem Dungeon Master, wenn man ihm Anknüpfungspunkte für die Kampagne gibt? Eltern, die getötet werden könnten, Geschwister, die als Rivalen auftreten, traumatische Erfahrungen, die überwunden werden können?
Aber wichtig ist: Der Angry-GM schlägt das im Rahmen der Erstellung einer simplen Homebrew-Kampagne vor.
Aber warum würde man sowas tun? Warum würde man versuchen, die Charaktererstellung so zu begrenzen?
Ein Beispiel dafür habe ich bereits weiter oben gegeben: Einige Spieler*innen neigen dazu, selbst für Stufe 1 die übercoolsten, krassesten Charaktere zu entwerfen. Die Charakterkonzepte sind dann häufig nicht passend für die Stufe der Charaktere selbst. Spieler wollen halt die coolsten Charaktere spielen, cooler als es das Gameplay auf den unteren Stufen zulässt.
Aber das ist nicht der einzige Grund, warum der Angry-GM das so macht und warum man als DM versuchen sollte, die Energie, die Spieler in die Charaktererstellung zu stellen, zu reduzieren und in Zaum zu halten.
In einem RPG sollen sich Spielwelt und Charaktere gegenseitig beeinflussen.
Einer der Gründe, warum RPGs wie Dungeons and Dragons so toll sind, ist, dass man alles darin machen kann. Die Charaktere können die Welt beeinflussen, wie sie wollen und die Welt kann die Charaktere beeinflussen und sie verändern, und zwar in alle möglichen Richtungen, die man nicht vorhergesehen hat.
Je mehr Energie man aber in die Charaktererstellung steckt, umso größer ist das Risiko, sich dagegen zu sperren, dass sich der Charakter verändert. Wenn man sich aber gegen eine Veränderung des eigenen Charakters sperrt, bricht ein Teil der Wechselwirkung zwischen Welt und Charakter weg. Wenn die Welt und die Geschehnisse im Spiel keinen Einfluss auf den Charakter haben, ist es sehr schwer, eine Bindung zwischen Charakter und Welt aufzubauen.
Das ist der gleiche Grund, warum man DMs sagt, dass sie klein anfangen sollen und nicht erst jedes Detail ihrer Welt ausarbeiten sollen: Je mehr Energie und Zeit sie in die Erstellung der gesamten Welt und der Abenteuer stecken, desto mehr sträubt sich ein*e DM dagegen, dass die Charaktere die Welt auf eine andere Weise beeinflussen, als er oder sie es vorgesehen hat, was dann zu Frust bei DMs und bei den Spielern*innen führt.
Es gilt also für DMs und für Spieler*innen das gleiche Prinzip: Je mehr Energie in die Erstellung gesteckt wurde, umso größer ist der Widerstand, wenn es zu einer Veränderung des Status Quo führt.
Unbewusst wissen das auch die meisten DMs und mögen keine Spieler, die 5 Seiten Hintergrundinformationen zu ihrem Charakter einreichen. Jetzt wisst ihr, warum euer Unterbewusstsein das nicht mag (und warum viele Spieler auch nicht die 20-Seiten Hintergrundinformation zur Welt lesen, die ihr als DM vorbereitet habt).
Charaktere die sich verändern Vs. Charaktere die gleich bleiben.
Es gibt beim Geschichten-Schreiben 2 Arten von Charakteren:
- Charaktere, die sich verändern.
- Charaktere, die sich nicht verändern.
Charaktere, die sich ändern, sind in der aktuellen Lehre die Norm. Wenn es irgendwo einen Workshop gibt, wie man Romane schreibt, geht es dort auch immer um Charakter-Arcs. Der Charakter ist am Anfang der Geschichte in einem Zustand und am Ende der Geschichte hat er sich durch die Geschehnisse in der Geschichte verändert. Beispiele dafür sind: Luke Skywalker in der original Star Wars Trilogie, Bilbo und Frodo Beutlin in der Hobbit und der Herr der Ringe, Katniss Everdeen in Hunger Games … so ziemlich jeder Hauptcharakter in jedem Young-Adult Roman. Der Charakter muss sich ändern, damit er die Geschichte überstehen kann. Das ist Teil der Geschichte und das ist einer der Gründe, warum diese Geschichten so erfolgreich sind. Menschen (oder Hobbits), die über sich selbst hinauswachsen und so das Abenteuer bestehen.
Dann gibt es Charaktere, die sich nicht ändern. Das ist der typische Westernheld, der in die Stadt reitet. In der Stadt gibt es ein Problem. Er löst es mit dem Revolver, krieg das Mädchen und reitet dann unverändert in den Sonnenuntergang davon, bis die nächste Stadt ein Problem hat. Die Geschichte verändert den Charakter nicht. Es ist der Charakter, der die Welt verändert. James Bond, Superman (als Erwachsener), Dirk Pitt, Sherlock Holmes … der typische 80er-Jahre-Action-Hero.
Diese Geschichten mit unveränderlichen Charakteren funktionieren auch. Nur sind sie seltener. Warum? Weil man sich weniger mit den Charakteren identifizieren kann. Man will zwar so sein wie sie, weiß aber, dass man nicht so ist. Es handelt sich um idealisierte Charaktere, die weniger menschlich, die mehr übermenschlich von ihrem Charakter her sind.
Und in Tabletop-RPGs sind Charaktere, die sich verändern können, wesentlich besser, als Charaktere, die das nicht tun. Frodo ist besser als James Bond.
Warum? D&D und andere RPGs gehen lange. Man kann denselben Charakter für hunderte, ja tausende Stunden spielen. Wenn der Charakter sich nicht verändert, wird das schnell langweilig. Auch kann der Charakter keine Bindung zur Welt aufbauen. Für James Bond sind all seine Bond-Girls untereinander austauschbar. Was im letzten Film geschehen ist, hat im nächsten Film keine Relevanz mehr (ich nehm hier mal den klassischen James-Bond als Beispiel, nicht die neueren Daniel-Craig-Filme). Die Interaktionen mit dem Charakter werden dann auch für die anderen Mitspieler langweilig, weil es dann schnell nichts mehr Neues gibt.
Und das kann alles passieren, wenn ein Spieler zu viel Energie in die Erstellung des Charakters steckt.
Sollen wir jetzt also die Charaktererstellung so extrem begrenzen, wie es der Angry-GM gemacht hat?
Das ist nicht unbedingt notwendig. Es ist eine Möglichkeit, dieses Problem anzugehen und je nachdem wie stur eure Spieler sind, unbedingt DIESEN CHARAKTER spielen zu müssen, kann es gar die einzige Möglichkeit sein.
Man muss die Spieler vielleicht etwas anleiten.
Wenn man eine Session 0 macht, kann man folgendes anmerken:
- Ihr spielt Charaktere der Stufe 1 (2, 3) – ihr seid Beginner-Abenteurer. Ihr habt all die tollen Abenteuer noch vor euch, nicht hinter euch. Die coolen Sachen sollen am Spieltisch geschehen und nicht im Roman eurer Hintergrundgeschichte.
- Warum will euer Charakter auf Abenteuer gehen? Warum ist sein jetziges Leben so langweilig, dass er nicht einfach so weitermachen will?
- Je aufwendiger und größer die Hintergrundgeschichte, um so mehr muss sie den Charakter in einem Zustand des Mangels darstellen. Bei der Charaktererstellung sollte man darauf achten, dass die Charaktere in einem Zustand sind, der doof ist, der langweilig oder unangenehm ist. Der Charakter ist ungenügend. Erst durch die Abenteuer, die er erlebt, wird er cool und stark.
- Ist die Hintergrundgeschichte eine, die den Charakter im besten Licht darstellt und ihm zum Obercoolen macht? Das ist dann eine Red Flag.
Das ist vielleicht auch der Maßstab, den ihr als DMs verwenden könnt, um zu sehen, ob der Spieler mit seinem Charakter nachher Probleme macht.
Beispiel 1:
- Gut: Ein Mönch, der einfach nur gern kämpfen will, ist ein Prima-Charakter auf Stufe 1.
- Schlecht: Ein Mönch, der von einer Gilde von Assassinen ausgebildet wurde, viele Morde begangen hat und dann innerhalb des Mönch-Ordens verraten wurde, den Verräter ermordet hat und den Mönch-Orden verlassen hat (auf zwei A4-Seiten aufgeschrieben) ist eher …
Beispiel 2:
- Gut: In der Kampagne, die ich leite, gibt es einen Kleriker, der als Joke erstellt wurde (es hat als One-Shot angefangen, weshalb ich das erlaubt habe), der Chip Skylark anbetet. Dieser Charakter hat in der Kampagne, die aus dem One-Shot entstand, so ziemlich die größte Entwicklung durchlaufen. Er hat seinen Gott aufgegeben und eine andere Göttin angebetet, um einen anderen Spielercharakter zu retten (etwas, was ein anderer Spieler, der ernsthaft viel Energie in die Erstellung seines Charakters mit der Verbindung zu seiner Gottheit erstellt hat, vielleicht nie gemacht hätte). Als diese Göttin starb, hat er den göttlichen Funken mit aufgenommen und sich selbst zu seinem Gott gemacht und ist super wütend auf “Chip Skylark”, der sich als ziemliches A****loch entpuppt hat. Und das alles konnte so entstehen, weil er den Charakter als Joke für einen One-Shot erstellt hat.
Beispiel 3:
- Schlecht: Meine Klerikerin, die ich das erste Mal in einer Kampagne gespielt habe. Sie hatte eine ausgeklügelte Hintergrundgeschichte (wollte einen Tempel während eines Festes zur Ernennung von neuen Priestern ausrauben, wurde zur Priesterin ernannt und quasi vom Gott “erpresst” (mach das oder Knast)). Sie war Cool (hey, Tempel ausrauben!), hatte aber auch Probleme. Und das größte Problem war, dass ihr Charakter keine wirkliche interne Motivation hatte, Abenteuer zu begehen, sondern nur eine externe (Drohung durch Gott). Sie hatte sich auch nicht wirklich während des Abenteuers geändert, weshalb ich sie dann mit Zustimmung des DMs durch einen anderen Charakter ersetzt habe, der viel simpler war (Magierin, die keine feine Nobeldame sein wollte, sondern gegen den Willen der Eltern auf Abenteuer gehen wollte – das war quasi die ganze Hintergrundgeschichte). Sie hat viel besser funktioniert.
Beispiel 4:
- Gut: Ein Dhampir, der quasi ein Thrall in den Fängen seines Vampirmeisters war, durch irgendwas zum Zauberer wurde und deshalb fliehen konnte. Motivation: Stärker werden, für den Fall, dass der Vampirmeister ihn findet.
- Schlecht: Blade.
Man schaut als DM oder Spieler also:
Hat der Charakter eine vernünftige Motivation, um auf Abenteuer zu gehen? Ist die Hintergrundgeschichte nicht zu cool für einen Charakter der Stufe 1 (2, 3)? Wirkt der Charakter zu sehr wie 80s-Action-Hero?
Und damit vermeidet man dann, dass der DM so strikte Regeln wie der Angry-GM anwenden muss, um seine Spieler auszutricksen, damit sie für ein TTRPG vernünftige Charaktere erstellen.
Als Anmerkung noch: das ganze gilt für Charaktere, die man für eine Kampagne erstellt. Spielt man einen One-Shot, vor allem auf einem hohen Level, dann kann man einen Action-Hero-Charakter erstellen.
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A. B. Funing